Wer kennt sie nicht, die Talent Card von Swiss Olympic. Seit 2005 vergibt Swiss Olympic, in Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Verband, Talent Card an sogenannte «talentierte Nachwuchsathleten». Es soll die Förderungswürdigkeit eines Kindes aufzeigen, im Hinblick auf eine Elite-Karriere. Oder anders ausgedrückt, welches Kind hat Potential und welches Kind hat kein Potential. Und das Ganze – im Skispringen zumindest - bereits bei 11- oder 12-jährigen.
Potential zu messen oder vorauszusagen, ist unmöglich. Jeder, der schon über einen längeren Zeitraum mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet hat, weiss das. Man könnte gerade so gut Mike Shiva zum jährlichen PISTE-Test einladen – an welchem das «Potential» gemessen wird – und er legt dann seine Karten oder was er auch immer macht. Und am Schluss haben dann einige Kinder eine nationale, andere eine regionale und die restlichen gar keine Talent Card. Die Trefferquote von Mike Shiva wäre vermutlich ähnlich gut oder schlecht wie jene, des eigentlichen PISTE-Test.
Klar, es gibt sie, die Jahrhunderttalente. Die von Kindesbeinen an einfach durchmarschieren, in jeder Kategorie immer ganz vorne mit dabei sind und dann auch noch den Biss haben es durchzuziehen. Aber es gibt eben auch die anderen. Es gibt die Kinder, die etwas mehr Zeit brauchen. Die vielleicht in der körperlichen oder persönlichen Entwicklung den gleichaltrigen immer einen Schritt hinterherhinken. Aber vielleicht haben genau diese Kinder ganz, ganz viel Potential.
Aber dieses Potential wird bei einem PISTE-Test nicht abgebildet. Beim PISTE-Test wird ein Ist-Zustand abgebildet, idealerweise zumindest, denn die Resultate von den Wettkämpfen sind aus den Monaten davor, also bereits Vergangenheit. Das Potential wird nicht abgebildet, denn Potential kann man nicht abbilden – ausser man ist Wahrsager.
Und so kommt es, dass ein 12-jähriges Kind an die Sportschule aufgenommen wird und ein anderes 12-jähriges nicht. Das Auswahlkriterium war? Natürlich, die Talent Card von Swiss Olympic. Und dazu noch die Ranglisten. Die Ranglisten von 11-jährigen, die über eine 25m-Schanze hüpfen. Absurd.
Ah ja. Und am Schluss? Am Schluss ist es so, dass die Athletin mit dem wenigsten «Talent» und ohne «Potential» immer noch springt, während alle gleichaltrigen Jungs und Mädchen bereits aufgehört haben, «the last woman standing» sozusagen. Und das verrückte an dieser Geschichte, soeben wurde diese Athletin für ein Swiss-Ski Kader selektioniert. Von «Kein Talent» in ein Swiss-Ski Kader, absurd aber wahr.
Diesen Frühling werden wieder Talent Card vergeben. Diesmal ohne richtigen PISTE-Test, weil der aufgrund des Lockdowns nicht mehr durchgeführt werden konnte. Einige Kinder werden wieder eine Talent Card bekommen, einige nicht. Nora wird nach fünf Jahren ihre erste Talent Card bekommen, endlich – endlich hat sie doch noch Potential bekommen. Ironie off. Noel wird wahrscheinlich auch dieses Jahr wieder keine bekommen, aus verschiedenen Gründen. Aber Noel (und allen anderen), eins sei dir gesagt: du bist unglaublich talentiert und hast ein riesiges Potential. Glaube uns. Und wenn du es uns nicht glaubst, frag doch Mike Shiva, der weiss es ganz bestimmt.
Wir probieren bei GO Bachtel GO seit einigen Jahren eine Selektion aufgrund von Leistungen möglichst lange hinauszuzögern. Möglichst allen Kindern eine Chance und Trainingsmöglichkeit geben, die diese auch wahrnehmen möchten. Wenn wir mal selektionieren, dann nach Trainingsbereitschaft und nicht, wer, wie weit springen kann. Wir hoffen, Swiss Olympic, Swiss-Ski und alle Sportschulen machen sich auch mal Gedanken. Ob sie am Ende mit ihrem System Talent Card wirklich «talentierte Nachwuchsathleten» gezielt fördern oder ob sie gezielt spannende Karrieren verhindern.
Bis dahin machen wir weiter mit unserem Training und all den Kindern, mit oder ohne Potential, wer weiss das schon so genau. Und dann sind wir erstaunt, wenn die Leistung eines Kindes plötzlich explodiert - so wie bei Nora in diesem Winter. Aber zugegeben, ganz so überraschend war es für uns nicht. Denn manchmal sind wir kleine Wahrsager und das haben wir Mike Shiva voraus.